Heilsame Höhe

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Für gesunde Menschen ist Klettern ein sportlicher Kick, für psychisch Kranke oft ein sinnvoller Therapiebaustein. Menschen mit Angststörungen und Depressionen können in der Höhe über sich hinauswachsen. 

Klettern – das klingt nach Abenteuer und Nervenkitzel, nach einer Herausforderung, bei der manch einer an seine Grenzen stößt. Kann ein so aufregender Sport für Menschen mit psychischen Erkrankungen tatsächlich förderlich sein? Jenen helfen, die ohnehin von massiven Ängsten geplagt werden oder denen der Lebensmut fehlt?

„Ja, das funktioniert“, weiß Dr. Thomas Lukowski. In seiner Münchener Praxis verordnet der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie seinen Patienten gerne Ausflüge in die Höhe. „Therapeutisches Klettern kann die Behandlung von Suchterkrankten unterstützen, aber auch Patienten mit Angst- oder Zwangsstörungen helfen“, sagt der Experte für Berg- und Höhenmedizin. „Auch bei Depressionen und psychosomatischen Beschwerden ist es eine gute behandlungsergänzende Maßnahme.“

Gut fürs Ego

Was Therapieklettern so wertvoll macht, sind seine vielen positiven Auswirkungen auf den Körper und den Kopf. Ähnlich wie bei anderen Sportarten führt die körperliche Anstrengung zur Ausschüttung von Glückshormonen wie Serotonin und Endorphinen. Zudem kann Klettern Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein stärken, psychisch kranken Menschen das gute Gefühl vermitteln, eine brenzlige Situation gemeistert zu haben und über sich hinausgewachsen zu sein. Die einen lernen beim Klettern, Eigenverantwortung zu übernehmen, andere erlangen in der Höhe ihr natürliches Körpergefühl zurück.

Training fürs Gehirn  

Unbewusst trainiert Klettern zudem die exekutiven Funktionen. So nennen Gehirnforscher geistige Fähigkeiten, die wir zur alltäglichen Bewältigung unseres Lebens brauchen: Die kognitive Flexibilität ermöglicht es, sich schnell auf neue Anforderungen einzustellen. Die Reizdiskriminierung sorgt dafür, dass wir störende Außenreize ausblenden und zielgerichtet handeln können. Das Arbeitsgedächtnis, sprich unser Erinnerungsvermögen, brauchen wir, um aufgrund unserer Erfahrungen Handlungsalternativen abwägen zu können. „Bei Menschen mit psychischen Erkrankungen sind diese Funktionen in unterschiedlichem Maße eingeschränkt“, erklärt der Facharzt. Klettern kann diese Fähigkeiten fördern.  

Ängste bewältigen

Und damit nicht genug: Ganz automatisch konfrontiert der Klettersport jeden Menschen mit einer Grundangst – der Angst vor dem Fallen aus großer Höhe. „Man lernt, sie zu bewältigen und gleichzeitig zu akzeptieren“, so Dr. Lukowski in einem Vortrag anlässlich der 52. Medizinischen Woche in Baden-Baden. „Die Überlegung beim therapeutischen Klettern ist, durch die Konfrontation mit der Grundangst auch andere Ängste überwinden oder deutlich vermindern zu können.“

Auch wenn mit Therapieklettern beachtliche Erfolge erzielt werden können, so ist es doch längst nicht für alle psychisch Kranken geeignet. „Ob es ein wertvoller Therapiebaustein sein kann, muss individuell entschieden werden“, erläutert Lukowski. Bei einer Depression sei beispielsweise unbedingt die fachliche Einschätzung des Schweregrades notwendig. Auch, um Patienten in der Höhe bloß nicht zu überfordern.

 Quelle: S&D Verlag GmbH, Geldern – https://leserservice.sud-verlag.de