Oh du Ausnahmezustand

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Oh du Ausnahmezustand

 

Zeitdruck, familiäre Verpflichtungen, oft auch die Frage nach dem Sinn und Zweck und ein Gefühl von Einsamkeit: Weihnachten und Jahresende bedeuten für viele alles andere als Glückseligkeit. von Saskia Fechte

 

 

„Idyllische weiße Weihnachten, wie sie uns die Werbung vormachen will, gibt es einfach nicht“, betont Diplom-Psychologe Fritz Propach, Vorsitzender von Pro Psychotherapie e. V. „Da werden Erwartungen geweckt, die gar nicht erfüllt werden können.“

 

Fritz Propach von www.therapie.de gibt Tipps zur Weihnachtszeit:

 

Viele Menschen können sich vor „Pflichtterminen“ kaum retten. Ruhe kehrt da kaum ein.

Die Zahl der Termine und Ortswechsel muss erträglich und umsetzbar bleiben. Natürlich sind die Wünsche verständlich, Kinder, Enkel oder die Eltern sehen zu wollen. Gerade bei Familien, deren Elternteile weit voneinander entfernt wohnen, führt Weihnachten jedes Jahr wieder zu einer Zerreißprobe. Warum nicht den Spieß mal umdrehen und zu sich nach Hause einladen?

 

Warum kommt es gerade an Weihnachten oft zum Streit?

Die Weihnachtstage sind eine emotional hoch bewertete Zeit. Viele Familien verbringen dann so viel Zeit miteinander auf engstem Raum, wie sonst das gesamte Jahr nicht. Besuche, gemeinsame Essen, Geschenkorgien finden vielfach nur statt, um es jemand anderem Recht zu machen. Hinzu kommt, dass fast jeder gestresst ist. Unerfüllbare Erwartungen und Konflikte sind da vorprogrammiert.

 

Wie geht man dem entgegen?

Sie sollen also nun mit der Familie, die Sie das Jahr über kaum oder gar nicht sehen, nun eventuell drei Tage am Stück miteinander verbringen. Da ist es wichtig, sich die eigenen Bedürfnisse klar zu machen und den anderen gegenüber auszusprechen. Zu selten werden Aufgaben verteilt: Helfen Sie einander beim Einkaufen, Kochen, Baumschmücken, auch Kinder können bei den Vorbereitungen Aufgaben übernehmen. Rechtzeitig vorher sollte darüber gesprochen werden, von welchen Ritualen man sich gerne lösen würde und welche Kompromisse man finden kann. Einigen Sie sich, ob Sie schenken möchten, und wenn ja, in welchem Rahmen. Bei Differenzen versuchen, „erwachsen“ damit umzugehen. Oder einfach mal die Zusammensetzung der Feier ändern und damit eine neue Atmosphäre schaffen: Wer Freunde dazu einlädt, lockert die Familienbindung und vermeidet eventuell typische Familienthemen.

 

Ist Weihnachtsstress selbstgemacht?

Mehr Toleranz sich selbst gegenüber tut gut: Weder muss die Wohnung für Weihnachten perfekt geputzt sein, noch muss es drei Tage lang Festmenüs geben, die man planen, vorbereiten und stundenlang kochen muss. Nicht jede Weihnachtsfeier ist Pflicht, Geschenke können schon früh besorgt werden, sobald einem etwas einfällt. Und wenn keine Zeit für Weihnachtspost bleibt, schickt man im Januar Neujahrsgrüße oder schreibt zu einem anderen Zeitpunkt. Netter Nebeneffekt: Sie können sich gleich persönlich für ein Geschenk oder eine Weihnachtskarte bedanken.

 

Also mehr an mich selbst denken?

Hinterfragen Sie einmal Ihre innere Einstellung zu Weihnachten: Was ist Ihnen an diesem Fest wichtig? Was bedeutet es Ihnen, Zeit mit Ihrer Familie verbringen zu können? Wie viel machen Sie, weil Sie denken, dass man es von Ihnen erwartet? Trotzen Sie dem Erwartungsdruck von außen und machen Sie, was sie wollen! Die Feiertage bieten Ihnen Freizeit für Dinge, die Sie gerne machen wollen.

 

Warum ist Weihnachten für viele Singles so belastend?

Bei Singles verstärkt die idealisierte Darstellung der Familie unter dem Weihnachtsbaum oftmals das Gefühl von Einsamkeit. Sie werden durch die Feiertage, an denen Freunde aufgrund familiärer Verpflichtungen kaum jemand Zeit hat, mit der als Defizit empfundenen Tatsache konfrontiert, selbst keinen Partner oder eigene Familie zu haben. Manch einer hat niemanden, mit dem er Weihnachten feiern kann, während andere verzweifelt nach Möglichkeiten suchen, sich gemeinschaftlichen Verpflichtungen zu entziehen.

 

Was raten Sie Alleinstehenden?

Viele, die mit Weihnachtstraditionen nichts anfangen können, nutzen die Feiertage für einen Urlaub in sonnigen Regionen. Doch auch zu Hause bieten sich besinnliche Anlässe, wilde Partys und abwechslungsreiche Events, zu denen es Gleichgesinnte zieht. Ich sehe Zweifel und Ängste aber auch als Chance, etwas zu verändern: sich zu überlegen, mit wem man Weihnachten gerne verbringen würde, vielleicht den Mut zusammen zu nehmen, einen heimlich geliebten Menschen anzusprechen. Das Gefühl einsam zu sein, als Anstoß zu nehmen, Sport zu treiben oder in einen Verein einzutreten. Vielleicht aber auch den Schritt zu wagen, sich therapeutische Hilfe zu suchen, anstatt sich weiter zurückziehen.

 

 

Quelle: S&D Verlag GmbH, Geldern