Allergien auf dem Vormarsch

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Bei immer mehr Menschen scheint das Immunsystem überempfindlich zureagieren. Werden die Auslöser aggressiver? Oder wir empfindlicher?

Gemeinsam zu essen ist nicht mehr so einfach. Kaum eine Einladung verläuft ohne die Einschränkung: »Ich vertrage aber nicht alles.« Die Regale im Supermarkt scheinen das zu bestätigen, überall heißt es: glutenfrei, laktosefrei, vegan. Rein gefühlsmäßig gibt es so viele Allergien und Unverträglichkeiten wie nie zuvor. Sonja Lämmel, ecotrophologin beim Deutschen Allergie- und Asthmabund e. V., gibt eine Einschätzung zur tatsächlichen Situation.

Frau Lämmel, werden Allergien und Unverträglichkeiten häufiger?

Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Wir müssen unterscheiden zwischen klinisch kontrollierten Studien und Auswertungen über Selbsteinschätzungen von Patienten. Bei einigen Allergien, also echten Abwehrreaktionen des Immunsystems gegen harmlose Stoffe wie Kuhmilch, Nüsse, Pollen oder Tierhaare, können wir einen deutlichen Zuwachs verzeichnen. Hier sind schwere allergische Reaktionen bei Kindern in den letzten zehn Jahren auf das Siebenfache gestiegen. In ähnlichem Umfang nehmen bei Pollenallergikern die Kreuzallergien auf bestimmte Nahrungsmittel zu. Für Laktose-Unverträglichkeit, Fruktose-Malabsorption oder Glutensensitivität gibt es wenig verlässliches Zahlenmaterial.

Was sind die Ursachen für den Anstieg?

Die Gründe sind vielfältig, sicherlich spielt Veranlagung eine Rolle. Aber die Hauptursache liegt darin, dass unser Immunsystem nicht mehr ausreichend trainiert wird. Demnach ist übertriebene Hygiene eine Ursache für den Vormarsch von Al-lergien in den Industrieländern. Unsere klinische Umgebung trägt dazu bei, dass das Abwehrsystem auf harmlose Dinge wie Pollen reagiert. Wir verlieren unsere natürliche Immunität. Eine weitere Theorie lautet: Schadstoffe begünstigen die Allergieentstehung. Pollen werden durch Umwelteinflüsse wie Ozon oder Dieselruß aggressiver. Wir haben heute eine weitaus vielfältigere Allergenbelastung als vor 50 Jahren.

Gilt das auch für Unverträglichkeiten auf Lebensmittel?

Schauen wir uns das Angebot an: Wir gehen immer weiter weg von natürlichen Lebensmitteln, hin zu Fertigprodukten mit vielen Hilfsstoffen. Verarbeitete Produkte und der vermehrte Einsatz von Fruchtzucker sorgen dafür, dass unser Darm überlastet ist. Die Qualität der Lebensmittel sinkt zulasten der Gesundheit. Das ist sicherlich ein Hauptgrund, warum die oben genannten Unverträglichkeiten immer häufiger in den Fokus der Gastroenterologen rücken und für vielfältige Magen-Darm-Beschwerden verantwortlich sind. Unverträglichkeiten auf Laktose, Fruktose oder Gluten sind meiner Ansicht nach häufig mit einer schlechten Lebensmittelauswahl verbunden und selten mit einer echten Störung in der Verstoffwechselung von Kohlenhydraten.

Sind Allergien in Mode?

Es ist sicherlich eine Mischung aus tatsächlichem Anstieg und Modeerscheinung. Viele Experten sind der Auffassung, dass wesentlich häufiger über das Thema gesprochen und geschrieben wird. Die Zahl der Betroffenen fällt aber geringer aus, als man denkt. Wir leben aktuell in einer »frei von«-Gesellschaft. Wir meinen, der Gesundheit durch den Verzicht auf bestimmte Lebensmittelinhaltsstoffe etwas Gutes zu tun. Gott sei Dank fängt hier langsam ein Umdenken an. Aktuelle Studien zeigen, dass zum Beispiel eine glutenfreie Ernährung eher gesundheitsschädigend ist, wenn keine entsprechende Erkrankung besteht.

Wie gehe ich vor, wenn ich eine Allergie oder Unverträglichkeit vermute?

Treten immer wieder Beschwerden in Zusammenhang mit dem Verzehr von Lebensmitteln auf, lohnt sich das Schreiben eines Ernährungs-Symptom-Tagebuches. Das legen Sie dem Arzt oder einer zertifizierten Ernährungsfachkraft vor. Anhand der Aufzeichnungen können Auslöser eingegrenzt und weitere Untersuchungen veranlasst werden.

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Verzicht ist riskant

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung weist darauf hin, dass ein Weglassen einzelner Lebensmittelgruppen grundsätzlich das Risiko für Nährstoffdefizite erhöht und langfristig zu gesundheitlichen Einschränkungen führen kann. Wer beispielsweise ohne Not auf Laktose verzichtet, gewöhnt seinen Enzymen ab, den Milchzucker verarbeiten zu können. So wird eine Laktoseintoleranz durch die falsche Ernährung erst provoziert.
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Fakten über allergische Erkrankungen

  • Bei etwa 36 Prozent der Frauen und 24 Prozent der Männer in Deutschland wird im Lauf des Lebens eine allergische Erkrankung diagnostiziert.
  • Bei 26 Prozent der Kinder und Jugendlichen wird Asthma bronchiale,
  • Heuschnupfen oder Neurodermitis festgestellt.
  • Für Asthma bronchiale bei Kindern zeigt sich eine kontinuierliche Zunahme um das Zwei- bis Dreifache über die letzten 30 Jahre.
  • Ab dem Schulalter sind Jungen von Asthma und Heuschnupfen deutlich häufiger betroffen als Mädchen.
  • Kinder, deren Eltern eine Allergie haben, tragen ein doppelt so hohes
  • Risiko für allergische Erkrankungen.
  • Jüngere Erwachsene haben häufiger allergische Erkrankungen als ältere.
  • Menschen, die in einer Großstadt leben erkranken häufiger an Allergien.
  • Haut, Schleimhäute und Atemwege sind bei allergischen Erkrankungen am häufigsten betroffen.

Quelle: S&D Verlag GmbH, Geldern

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