
Anendophasie: Stille im Kopf


Ob wir den Tag planen, über ein Gespräch nachdenken oder die Bedienungsanleitung der Spülmaschine studieren. Immer halten wir eine Art inneren Monolog, den die meisten von uns als fließende Gedanken wahrnehmen. Doch es gibt Menschen, denen fehlt diese innere Stimme …
Anendophasie nennt sich dieses Phänomen und es betrifft etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung. Die Zahl ist allerdings nur ein Schätzwert. Denn erst kürzlich machten Wissenschaftler aus Kopenhagen diese Entdeckung: Unsere innere Sprache, wie man lange Zeit glaubte, ist offenbar keineswegs universell in jedem von uns angelegt. Anendophasisten denken also nicht in Wörtern, sie haben nie die Erfahrung gemacht, innerlich mit sich selbst zu sprechen. Manche von ihnen sagen, Gedanken erscheinen ihnen lediglich als Bilder im Kopf – ohne Ton. Unsere innere Stimme aber, das haben bereits frühere Untersuchungen ergeben, ist nicht einfach eine Laune der Natur; sie ist ein Teil unseres Lebens. Ohne sie auszukommen, ist das problematisch?
Wörter merken? Schwierig …
Die dänischen Forscher wollten es genauer wissen. Nachdem sie ihre Testpersonen vor einige verbale Gedächtnisübungen stellten, zeigte sich: Anendophasisten haben Schwierigkeiten, sich Begriffe, Vokabeln und insbesondere Reime zu merken oder gar auswendig zu lernen. Das scheint daran zu liegen, dass »man die Wörter und ihren Klang im Kopf wiederholen muss, um sie sich einzuprägen«, erklärt die Linguistin Johanne Nedergard von der Universität Kopenhagen. »Wir gehen davon aus, dass diese Menschen andere Merkstrategien entwickelt haben. Im normalen Alltag fallen die Unterschiede im verbalen Gedächtnis kaum auf«, heißt es in der Studie. Und dennoch gibt es einen Bereich, in dem die innere Stimme eine elementar wichtige Rolle spielt.
Herausforderung in der Therapie
Und das ist offenbar die kognitive Verhaltenstherapie, in der es darum geht, ungünstige Denkmuster zu erkennen und zu verändern. Die innere Stimme kann in einem solchen Prozess sehr wichtig sein. Noch steht die Erforschung der Anendophasie ganz am Anfang. Als Nächstes gilt es herauszufinden, welche Sprachbereiche im Gehirn betroffen sind und ob Anendophasisten grundsätzlich in keinem sprachlichen Format denken, so wie es die meisten anderen Menschen tun. Im Geiste Selbstgespräche zu führen, hat nämlich durchaus einen tieferen Sinn …
Woher kommt die innere Stimme?
Weltweit sind Wissenschaftler der inneren Stimme schon seit etwa 100 Jahren auf der Spur. Einer der Ersten war der russische Psychologe Lew Wygotski, der die Theorie aufstellte, die innere Stimme sei uns in die Wiege gelegt. Sobald Kinder Wörter lernen, sprechen sie sie laut aus, etwa beim Spielen. Wygotski nannte dies »egozentrisches Sprechen«. Im Schulalter hören diese Selbstgespräche weitgehend auf, aber sie sind nicht weg. Sie verziehen sich sozusagen unter die Oberfläche. Dort hat die innere Stimme die gleiche Funktion wie das »Gebrabbel« von Kindern. Sie dient dazu, Pläne zu schmieden, Probleme zu lösen und uns selbst zu reflektieren.
Kurzum: Die innere Stimme ist ein Werkzeug, um das Leben zu meistern. Störend kann sein, wenn sie zum Kritiker wird, der unser Denken und Tun anzweifelt oder uns gar in Ängste verwickelt. Zum Glück gibt es einige psychologische Tricks gegen das »Gehirngeplapper«. Sich selbst in Gedanken mit Du anzusprechen, schafft eine gesunde Distanz. Oder machen Sie einen Spaziergang. Die Natur hat eine beruhigende Wirkung auf das Gehirn – auch auf das Broca-Areal und Wernicke-Zentrum – dort, wo Sprechen, Hören und eben unsere innere Stimme verarbeitet werden.
Quelle: S&D Verlag GmbH, Geldern – leserservice.sud-verlag.de
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