Gedächtnis wie ein Fotoalbum

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Einmal gesehen, nie mehr vergessen. Wie praktisch wäre es, sich Straßenkarten, Gebrauchsanweisungen oder Backrezepte mit nur einem einzigen Blick für immer merken zu können. Ein fotografisches Gedächtnis – gibt’s das wirklich und können wir es trainieren?

Die tröstliche Nachricht vorweg: Nur sehr wenige Menschen haben diese Fähigkeit, eine vollständige Szene als detailgenaues Bild im Kopf zu behalten und dieses jederzeit abrufen zu können. Ihr Gehirn »knipst« sozusagen ein Foto – metaphorisch ausgedrückt – und speichert diese Momentaufnahme für jetzt und alle Ewigkeit. Stephen Wiltshire, der bekannte Ausnahmekünstler aus London, kann so etwas. Er bringt es fertig, nach einem kurzen Helikopterrundflug über Rom, Tokio oder auch New York naturgetreue Panoramabilder dieser Weltstädte zu zeichnen – frei aus der Erinnerung he­raus. Spektakulär! Warum haben wir nicht alle ein so hervorragendes eidetisches oder umgangssprachlich fotografisches Ge­dächtnis?

Visuelle Wahrnehmung

Eidetiker, das Wort stammt übrigens vom griechischen Eidos und bedeutet übersetzt so viel wie »Gestalt«, haben neben ihrer extrem bildhaften Wahrnehmung meist auch andere kognitive Beson­derheiten. Wie Stephen Wiltshire auch sind sie oftmals Autisten und sehen die Welt ohnehin mit anderen Augen. Ihre fotoähnliche Merkfähigkeit gilt als Inselbegabung. Menschen wie er betrachten nur wenige Sekunden lang eine Buchseite und können danach Wort für Wort wiedergeben. Andere wissen alle Postleitzahlen sämtlicher Ortschaften oder kennen deren Straßennetze auswendig. Eidetische Fähigkeiten sind prinzipiell uns allen in die Wiege gelegt. Als Kinder haben wir sie noch.

Essenz des Eindrucks

An Ihren Enkelkindern können Sie es beobachten: Versuchen Sie mal, gegen die kleinen Gedächtniskünstler im Memory-Spiel zu gewinnen – keine Chance. Kinder nehmen noch alle Informationen wertfrei in sich auf und schenken selbst winzigen Kleinigkeiten große Aufmerksamkeit. Mit den Jahren gewöhnt sich das Gehirn eine ökonomischere Arbeitsweise an. Das sogenannte ikonische Gedächtnis, ein Teil des Ultrakurzzeitgedächtnisses, trennt Un­wich­­tiges vom Wichtigen. Übrig bleibt die Essenz eines Eindrucks. Viele Feinheiten gehen dabei verloren. Doch wir können sie zurückerlangen. Mit speziellen Merktechniken wird zwar wahrscheinlich kein Stephen Wiltshire mehr aus uns. Doch unsere visuelle Wahrneh­mung und somit das eidetische Gedächt­nis können wir durchaus trainieren.

Trainieren Sie Ihr eidetisches Gedächtnis

Bestimmt kennen Sie Fehlersuchbilder. Zwei Zeichnungen, die sich nur scheinbar ähneln wie ein Ei dem anderen, liegen nebeneinander. Eine davon hat Fehler. Sie finden sie, indem Sie sich lange darauf konzentrieren und immer mehr Details erfassen.

Eine andere Übung, die die eidetische Vorstellungskraft stärkt, nennt sich Loci-Methode, auch »Gedankenpalast« genannt. Sie stammt aus der Gruppe der Mnemotechniken, zu denen auch Reime und Eselsbrücken gehören. Mit der Loci-Methode – abgeleitet vom lateinischen Wort »locus« für Platz – verbinden wir abstrakte Sachverhalte mit Orten, die uns vertraut ­sind, und erzählen uns selbst eine schöne Geschichte. Einfaches Beispiel anhand Ihres Einkaufszettels: Anstatt die Lebensmittel, die Sie einkaufen wollen, stur auswendig zu lernen, »verteilen« Sie sie in Gedanken in Ihrer Wohnung. An der Haustür hängt ein Brot anstelle eines Namensschildes, auf dem Sofa »sitzen« Möhren, keine Kissen, und das Bild an der Wand zeigt Tomaten, nicht Tante Erna und so weiter. Je skurriler, desto einprägsamer. Bilder, die sich einbrennen, sind wie Zunder fürs fotografische Gedächtnis. Sie glühen im Kopf immer weiter.

Quelle: S&D Verlag GmbH, Geldern – leserservice.sud-verlag.de

Bildnachweis: ©Fabian – stock.adobe.com