Musik – na und?!

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Musik kann uns zu Tränen rühren, eine Gänsehaut erzeugen, Spannung aufbauen. Aber was, wenn Musik keinerlei Gefühl auslöst? Fachleute sprechen von musikalischer Anhedonie.

Die glücklichsten wie auch die traurigsten Momente im Leben sind häufig mit Musik unterlegt: die erste Sommerliebe, das Ja-Wort, der endgültige Abschied am Sarg … Lieder können ganze Episoden unserer Autobiografie beschreiben und für alle Zeiten Erinnerungen daran wecken, ebenso die passenden Emotionen dazu. Bei den meisten von uns ist das so – doch es gibt Ausnahmen, nämlich Menschen, bei denen Musik überhaupt kein Gefühl erzeugt. Nichts regt sich – egal, welche Stilrichtung an ihr Ohr dringt. Für sie klingt Beethovens Fünfte nicht anders als das monotone Dröhnen des Staubsaugers. Musik, ein Geräusch – na und?! Dafür gibt es inzwischen einen Fachbegriff: musikalische Anhedonie. Damit gemeint ist die Unfähigkeit, bei Musik Freude zu empfinden. Immerhin drei bis fünf Prozent der Weltbevölkerung sollen davon betroffen sein.

Kein Kribbeln, keine Endorphine

Forscher der University of Barcelona wollten mehr über dieses Phänomen wissen und untersuchten dafür eine kleine Gruppe an Testpersonen, die Musik nach eigenen Angaben vollkommen kaltlässt – nicht nur innerlich. Auch körperlich zeigten die Probanden nicht die üblichen Reaktionen, die typisch sind, wenn Melodien die Seele berühren. Eine steigende Herzfrequenz und erhöhte Leitfähigkeit der Haut – Parameter wie diese waren schlichtweg nicht nachweisbar. Kein Kribbeln, keine Endorphine. Wie kommt es, dass manche Menschen mit Musik keine Glücksgefühle verbinden können?

Angeboren, aber nicht krankhaft

In einer Folgestudie gingen die Wissenschaftler noch einen Schritt weiter und schauten den »Musikblinden« via MRI-Scanner ins Gehirn. Und siehe da: Bei Menschen mit musikalischer Anhedonie scheinen zwei bedeutsame Teile des Gehirns kaum oder gar nicht miteinander zu kommunizieren, nämlich das Hörzentrum und das Belohnungssystem. Nucleus accumbens, so heißt jenes winzige Organ, das an sich viel vom Glücks- und Antriebshormon Dopamin ausschüttet, wenn gewisse Klänge sozusagen Musik in unseren Ohren sind. Fehlt die Verbindung zwischen diesen beiden Hirnarealen, kann Dopamin jedoch nicht sprudeln. Das heißt allerdings nicht, dass Menschen, die von Musik unberührt bleiben, keine Gefühle empfinden können. Sie finden woanders ihre Freude.

Folge eines Schlaganfalls

Eine krankhafte Störung, betonen die Wissenschaftler, sei die musikalische Anhedonie nicht. Sofern sie angeboren ist; sie kann aber auch erworben sein, etwa infolge einer Hirnschädigung. Manche Schlaganfall-Patienten zeigen diese Auffälligkeit: Nach dem Hirninfarkt sind sie beim Musikhören plötzlich emotionslos. Noch weiß man zu wenig über die Ursachen, Häufigkeit und über den Verlauf von erworbener Musik-Anhedonie. Daher forschen Neurologen der Charité Universitätsmedizin Berlin und des Centrums für Schlaganfall-Forschung Berlin in Kooperation mit dem Centrum für Musikermedizin Berlin weiter daran. Schließlich gilt Musik wegen ihrer anregenden und beglückenden Wirkung inzwischen auch als wichtiger Therapiebaustein zur Behandlung vieler Erkrankungen, zum Beispiel bei Demenz. Im Gegensatz zu Inhalten aus dem Kurzzeitgedächtnis bleiben nämlich die Erinnerungen an frühere Glücksmomente in der Regel noch lange erhalten – an die Lieder der eigenen Jugend auch.

Quelle: S&D Verlag GmbH, Geldern – leserservice.sud-verlag.de

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